Sektion des Monats

Kreativität gefragt: zur Umsetzung des neuen Kulturartikels in der schweizerischen Bundesverfassung

Mit der Totalrevision der Bundesverfassung ist Kultur – für viele unbemerkt - zu einem politisch relevanten Thema geworden. Nach mehrmaligen, erfolglosen Anläufen hat die Schweiz endlich einen Verfassungsartikel erhalten, der ausdrücklich den Kulturauftrag des Bundes umschreibt. Zur Zeit ist eine Projektgruppe daran, einen Entwurf zu dem Gesetz zu erarbeiten, welches die Umsetzung dieses Artikels sicherstellen soll.

Mit dem damit verbundenen Gesetzgebungsprozess wird in nächster Zukunft ein kulturpolitischer Diskurs in die Wege geleitet, in welchem der Schweizerische Kunstverein aktiv Stellung beziehen und insbesondere die Rolle der visuellen Künste vertreten will. Dass dieser Diskurs nicht ganz einfach sein wird, liegt daran, dass der Kulturartikel die Aufgaben des Bundes sehr zurückhaltend in der "Kann"-Form umschreibt und keine ausdrücklichen Verpflichtungen enthält. Erschwerend kommt hinzu, dass wichtige Bereiche einer substantiellen und gesamtheitlichen Kulturpolitik, wie zum Beispiel die Bildungspolitik, nicht Gegenstand des Kulturartikels sind und deshalb aus dieser Diskussion ausgeklammert zu werden drohen.

Die Schweiz verfügt über ein ausserordentlich vielseitiges und aktives Kulturleben. Die Museumsdichte beispielsweise ist weltweit einmalig, die populären Kulturszenen erfreuen sich grosser Beliebtheit und Alternativ-Kulturen finden regelmässig – so paradox dies tönen mag – breite Unterstützung. Und trotzdem stellt sich immer mehr die beklemmende Frage, ob diese kulturelle Vielfalt unser Leben und Zusammenleben noch gestalten und mit Inhalten versehen kann. Die nüchterne Betrachtung lässt eher die Befürchtung aufkommen, dass der gesellschaftliche Zersetzungsprozess sich beschleunigt und die Schweiz ihre kulturelle Identität zwischen Isolationismus und Globalisierungswahn aufreibt. Die Zeit ist reif für eine grundlegende Diskussion über Kultur und Kulturpolitik, der anlaufende Gesetzgebungsprozess gibt den willkommenen Anlass dazu.

Mit dem Podiumsgespräch anlässlich der diesjährigen Jahresversammlung vom 1. Juni in Altdorf hat der Schweizerische Kunstverein einen ersten Meilenstein gesetzt. Am Anfang des damit initiierten kulturpolitischen Meinungsaustauschs steht die Herbeiführung eines neuen Konsens zum Begriff Kultur. Im vergangenen Jahrhundert wurde der traditionelle Kulturbegriff dekonstruiert, der letzte, radikale Stoss wurde ihm 1968 versetzt. In der Folge hat sich eine grosse Zahl von unterschiedlichsten Kulturszenen entwickelt, die zu der erwähnten Vielfalt geführt haben, ein gemeinsames Kulturverständnis aber hat sich nicht herausgebildet. Erst seit kurzem beginnt die Erkenntnis zu reifen, dass eine solche Entwicklung ins Leere zu laufen droht. Es hat ein Annäherungsprozess eingesetzt, der jetzt subtil unterstützt und gesteuert werden muss.

Das Podium in Altdorf hat gezeigt, dass in Kulturkreisen dieser Prozess erfreulich weit fortgeschritten ist. Dabei wird der Kulturbegriff sehr breit, gleichzeitig aber auch sehr essentiell verstanden. Das etwas abgegriffene Bekenntnis, dass der Mensch im Mittelpunkt aller kulturellen Tätigkeiten stehe, wird bekräftigt und mit neuen, substanziellen Inhalten versehen. Der Umgang mit der gewachsenen und der gestalteten Umwelt, aber auch mit Vergangenheit und Zukunft erhält zusätzliches Gewicht. Inwieweit allerdings diese Haltung von der Politik und der Öffentlichkeit getragen wird, muss sich erst noch weisen.

Die Doppelrolle der Kunst in diesem neuen Kulturverständnis ist die des Motors und des Spiegels, oder, etwas menschlicher formuliert, die des Herzens und des kritischen Urteilvermögens. Die Künstler werden vermehrt ihre kreativen Klausen verlassen und als engagierte Partner in gesellschaftlich-politischen Prozessen unser Umfeld und unser Zusammenleben mitgestalten müssen. Und die Gesellschaft hat diese Partnerschaft ernst zu nehmen und den Künstlern den entsprechenden Respekt entgegen zu bringen. Die Kunst wird immer weniger als nobles Hobby einer vermögenden Schicht von Bildungsträgern und Meinungsbildnern betrachtet, sondern als vorrangiges Medium für die Entwicklung des Wahrnehmungs- und Urteilsvermögens aller Bildungswilligen.

Ein Aspekt ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung: Die Frage nach der künstlerischen Qualität und der damit erzeugten Wirkung. Diese Frage war – auch das eine Folge der 68-er Jahre – lange Zeit ausserhalb von Insiderkreisen tabu, allenfalls waren die sozialpolitische Aussage oder aber der erzielte Preis an einer Auktion akzeptierte Kriterien. Künstlerische Qualität ist weniger denn je messbar und rational definierbar, gleichzeitig will es unser neues Kulturverständnis, dass eine breitere Öffentlichkeit in den künstlerischen Prozess und damit eben auch in diese Qualitätsdiskussion einbezogen wird. Dass dies gelingt, dafür braucht es – neben diskursbereiten Künstlern und Kunstwissenschaftlern – engagierte und solide ausgebildete Kunst- und Kulturvermittler. Sie sind es, die das Spannungsfeld zwischen künstlerischem Anspruch und Wahrnehmungsvermögen der angesprochenen Öffentlichkeit kreativ nutzen können. So, wie sie ihr Publikum, Kinder und Erwachsene, an die Qualität von künstlerischen Aussagen heranführen, werden sie in Zukunft Museumsleute, Ausstellungsmacher und Künstler für die Anliegen, Bedürfnisse und Möglichkeiten dieses Publikum sensibilisieren. Dies ist eine der grundlegenden Voraussetzungen, dass der qualitätsbetonte Dialog, der unserem Kulturverständnis zugrunde liegt, sich entwickeln kann.

Es ist nahe liegend, dass eine so verstandene Kultur nur dann Wirkung entfalten kann, wenn sie von unserem Bildungswesen getragen wird. Die bisherigen Debatten zur laufenden Bildungsreform weisen hier ein beängstigendes Defizit auf. Die Bildung wird nach den bisherigen Plänen vorwiegend in den Dienst der Wirtschaft gestellt und auf Ausbildung reduziert, die Kultur bleibt auf der Strecke. Diese Entwicklung wird fatale Folgen haben. Menschen, die zu reinen Arbeitstieren ausgebildet werden, verkümmern, auch wenn ihre Ausbildung hochstehend, effizient und flexibel ist. Der Gesellschaft und dem Staat wird damit die Grundsubstanz entzogen, die Bevölkerung wird immer mehr zum Spielball der Wirtschaftsmächte. Es ist unumgänglich, dass – trotz der bestehenden Abgrenzung des neuen Kulturgesetzes – die Bildungspolitik in unsere Diskussion einbezogen wird.

Abschliessend noch einige Worte zum historischen und politischen Hintergrund des anlaufenden Diskurses. Der Schweizerische Bundesstaat der Gründungsphase wurde ausgeprägt liberal und föderalistisch ausgestaltet. Bildung und Kultur waren - und sind es noch heute - primär Aufgabe der Gemeinden und Kantone, die eigentliche Kunstförderung war in den ersten Jahrzehnten fast ausschliesslich engagierten und verantwortungsbewussten Privaten überlassen. Der Schweizerische Kunstverein hat in diesem Zusammenhang wichtige Aufgaben erfüllt. Noch heute ist er föderalistisch organisiert und fühlt sich diesem Föderalismus verpflichtet. Der Bund aber hat im Laufe der Zeit immer mehr kulturelle Verantwortung übernehmen müssen, der Kulturartikel hat lediglich diese Entwicklung verfassungsmässig verankert. Das neue Kulturgesetz muss auf dieser Grundlage das fruchtbare Zusammenwirken von Gemeinden, Kantonen und Bund, aber auch von Privaten und öffentlicher Hand sicherstellen, die kulturpolitische Auseinandersetzung muss vor diesem Hintergrund geführt werden.

Ich rufe alle Kunstinteressierten auf, aktiv in die anlaufende Kulturdiskussion einzugreifen; Ihre Meinung interessiert uns, wir werden sie in den politischen Entscheidungsprozess einfliessen lassen.

Rainer Peikert, Präsident des Schweizerischen Kunstvereins, rainer@peikert.ch