Sektion des Monats

Referat von Rainer Peikert vom 9. September 2006

Meine sehr verehrten Damen und Herren

«Der Mensch der Zukunft hat zwei Hauptbedürfnisse: Er will älter werden und er will kontinuierlich unterhalten werden.»  Dies ist die Kernaussage eines Referates, das Dr. James Canton, ein führender Trendforscher,  in diesem Frühjahr vor einer illustren Schar von Schweizer Wirtschaftsvertretern gehalten hat. Man kann über diese Aussage denken wie man will, einen objektiv feststellbaren Fehler hat sie: Dr. Canton zeigt damit nicht die Zukunft auf, sondern die Gegenwart in entwickelten Gesellschaften.

Wir alle – oder doch fast alle – tun alles, um älter zu werden. Wir trimmen uns fit und tragen dabei Schutzhelme, wir rauchen nur noch mit staatlich verordnetem schlechtem Gewissen, unsere Autos haben 5 oder 7 Airbags, die Ärzte schwören ihren Eid auf unser Leben und die Pharmaindustrie verdient viel Geld, um zu forschen, wie wir noch älter werden können.

Und, ob wir wollen oder nicht, wir werden dauernd unterhalten: Infotainment in Zeitungen und Fernsehen, Erlebnisgastronomie und Freizeitparks, Nacht der Museen mit Lounges und Dancefloors, Musik wo man hinhört, Bilder wo man hinsieht. Die zur Unterhaltungsindustrie verkommene Filmwelt Amerikas hat sich zu einer der wichtigsten Exportbranche dieses Landes entwickelt. Alternde Rockstars füllen mit ihren lendenlahmen Auftritten gigantische Stadien und während Wochen ganze Seiten - auch in den angesehensten Zeitungen unseres Landes.

Vor zweihundert Jahren sah das ganz anders aus.  Heinrich Pestalozzi schreibt 1787 in seiner Leutnants-Philosophie:

 «Der Mensch ist von Natur - wenn er / sich selbst überlassen / wild aufwächst - träg,  unwissend,  unvorsichtig,  unbedachtsam,  leichtsinnig,  leichtgläubig,  furchtsam und  ohne Grenzen gierig. Und wird dann noch, durch die Gefahren, die seiner Schwäche, und die Hindernisse, die seiner Gierigkeit aufstossen, krumm,  verschlagen,  heimtückisch,  misstrauisch,  gewaltsam,  verwegen,  rachgierig und  grausam.  Er raubt wie er isst, und mordet wie er schläft. Das Recht seiner Natur ist sein Bedürfnis, der Grund seines Rechtes ist sein Gelüst, die Grenze seiner Ansprüche ist seine Trägheit und die Unmöglichkeit, weiter zu gelangen.

In diesem Grad ist es wahr, dass der Mensch, wenn er wild aufwächst, der Gesellschaft nicht nur nichts nützt, sondern ihr im höchsten Grad gefährlich und unerträglich ist.»

Der Unterschied zwischen den beiden zitierten Menschenbildern könnte grösser nicht sein, etwas aber ist ihnen gemeinsam: Sie zeigen nicht die Menschen ihrer Zeit, sie zeigen vielmehr, welcher Geist, welche Macht die jeweilige Zeit beherrscht. Bei Pestalozzi ist es der idealistische Geist der Aufklärung und bei Canton die Übermacht und Omnipräsenz der Wirtschaft.

 

Der «wirkliche» Mensch aber ist auf sich selbst gestellt. Sein Selbstverständnis basiert auf seiner ureigenen Geschichte und seinem persönlichen Wahrnehmungsvermögen.

 

Jeder Mensch, auch der ungeborene, hat seine individuelle Geschichte. Diese wird geprägt von seiner Herkunft und von seinen Erfahrungen - vor und nach der Geburt. Und sie steht in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess.

 

Die menschliche Wahrnehmung ihrerseits ist unmittelbar und sinnlich. Der Grundstein für die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen wird mit seiner Zeugung gesetzt. Im Mutterleib entfaltet sie sich und findet in der Geburt ihren ersten Höhepunkt. Dann aber ist sie der Fürsorge und den Zwängen der Eltern, der Erzieher und der Gesellschaft preisgegeben.

 

Diesem Spannungsfeld von Geschichte und  Wahrnehmung entspringen die positiven und die negativen Kräfte und Energien die das menschliche Leben, das gesellschaftliche Zusammenleben bewegen.

 

Diese Gedanken führen uns auf das «Dazwischen» oder, etwas poetischer, auf die Fragestellung:

Wie wird aus morgen heute?

Diese wunderschöne Frage hat ein sechsjähriger Enkel seinem Grossvater gestellt. Der erfahrene und gebildete Senior versuchte mit allen wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnissen und Argumenten eine Antwort zu geben. Natürlich ohne  Erfolg, denn die Frage des Enkels hat eine andere, viel tiefere Dimension und zielt auf den Kern unseres Themas:

Sinnliche Wahrnehmung ist dort angesiedelt, wo aus morgen heute wird, eben dazwischen.

Bevor wir einen Gegenstand, einen Sachverhalt wahrnehmen, liegt dieser im Morgen, in der Zukunft und ist für uns inexistent. Einmal wahrgenommen aber wird er geschichtliche Erfahrung und wirkt so in unserem Selbstverständnis weiter. Dabei ist es unwichtig, ob der Gegenstand neu ist, oder ob wir diesen einfach neu wahrnehmen.

In diesem geheimnisvollen Urgrund der Wahrnehmung liegt das Wirkungsfeld der Kunst, in diesem «Dazwischen» entwickelt sich die Liebe.

 

Und so sind wir beim heutigen Anlass, L'ART ET SES AMANTS , angelangt

«Liebe macht nicht blind, sondern hell wach»


Die Liebe ist eine besondere Form - eine besonders intensive und andauernde Form von sinnlicher Wahrnehmung, manchmal einseitig, manchmal gegenseitig.

Leben, Liebe und Kunst sind auf dieser Ebene der Wahrnehmung unzertrennlich aneinandergekettet. Ohne Kunst gibt es keine Liebe und ohne Liebe gibt es kein Leben und kein Zusammenleben.

Und weiter: Nur Liebe zur Kunst ist «Pflege» der Kunst.

Wir, die Liebhaber der Kunst und Hüter dieses Dazwischen, stehen ein für die Lebensbasis, die Seele des auf sich selbst gestellten Menschen und bauen damit - seit 200 Jahren – an einem Grundpfeiler unserer freiheitlichen schweizerischen Gesellschaft.

Wir feiern dies hier und heute mit einem Fest, das der Kunst und der Liebe gewidmet ist. Bleiben Sie hell wach, feiern Sie mit uns und erleben Sie, wie aus morgen heute wird. Ich wünsche Ihnen dazu viel Glück!