Editorial

Museumsland Schweiz:
Wachstum ohne Grenzen?
Tagung Winterthur - 25. September 1999

Museumsland Schweiz
Dr. Dieter Schwarz, Direktor, Kunstmuseum Winterthur




Meine Damen und Herren,

Ihre Anwesenheit zeigt, dass wir mit dem Thema des heutigen Symposiums eine Frage angesprochen haben, die nicht nur die Veranstalter allein beschäftigt. Dieser Veranstaltung liegt die Situation in Winterthur zugrunde, die im Kleinen abbildet, worum es auch im grösseren Zusammenhang geht: der Bestand an Museumsinstitutionen ist in Winterthur sehr umfangreich, selbst wenn man nur einmal bei den Kunstsammlungen bleibt. 1916 wurde das Kunstmuseum eröffnet, 1951 die Stiftung Oskar Reinhart, 1965 die Sammlung Oskar Reinhart "am Römerholz”, 1970 das Museum Jakob Briner, 1993 das Fotomuseum und 1995 das Museum Villa Flora. Diese Aufzählung deutet bereits an, wie sich das Wachstum beschleunigt und in den neunziger Jahren mit zwei wichtigen Neugründungen seinen Höhepunkt erreicht hat. Eigentlich wäre das alles sehr erfreulich, und niemand wird bestreiten, dass die Vielzahl der Institute, ihre Sammlungen und ihre Ausstellungstätigkeit eine erstrangige Attraktion für die Stadt Winterthur darstellen. Und dennoch herrscht nicht das reine Glück, denn alle diese Museen haben zu kämpfen – mit finanziellen, strukturellen, räumlichen Problemen –, die älteren noch etwas mehr als die jüngeren, nicht weil sie schwerfällig und unbeweglich geworden wären, sondern weil sie grössere Lasten an Sammlungen und Aufgaben zu tragen haben. Die unvermeidbaren Aufgaben wachsen ebenso stetig wie die Ansprüche des Publikums, das inzwischen nicht nur die Unterschiede zwischen den Sammlungen, sondern auch zwischen den Musemscafés kennt. Damit halten die Aussichten auf eine Steigerung der Mittel nicht Schritt – in einer Stadt, deren Steueraufkommen nicht unbedingt dem Reichtum ihrer Kunstsammlungen entspricht, in einem Kanton, der sich hohe Sparziele gesetzt hat, und in einer Zeit der wirtschaftlichen Konzentration auf die Metropole Zürich, die der musealen Dezentralisation entgegenläuft.

So weit, so gut. Winterthur gilt pars pro toto, denn in der Schweiz stellt sich die Situation ähnlich dar. Nachdem sich die Museumslandschaft während der fünfziger und sechziger Jahre nur gemächlich verändert hatte, begannen sich in den siebziger und achtziger Jahren verschiedenenorts bauliche Veränderungen anzubahnen: den Anfang machte das Kunsthaus Zürich mit seinem Erweiterungsbau von 1976, dann folgen Renovationen, Erweiterungen, Neugründungen von Instituten in schnellem Rhythmus. Ich will mich hier nicht in Aufzählungen ergehen; Sie haben eine Aufstellung erhalten, die diese Entwicklung belegt. Daraus wird ersichtlich, dass nach den aktiven achtziger Jahren mit den Eröffnungen in Basel, Lugano und Schaffhausen die neunziger Jahre ganz eigentlich zum Museumsjahrzehnt geworden sind. Es verging kaum ein Jahr, ohne dass zur Einweihung eines neuen oder mindestens eines massiv renovierten oder erweiterten Museumsgebäudes in Baden, Davos, Winterthur, Riehen oder Appenzell eingeladen wurde: waren es in den achtziger Jahren neun Neugründungen von Kunstmuseen, so kommen wir in den neunziger Jahren bereits auf deren fünfzehn. Noch ist nicht abzusehen, ob wir den Höhepunkt erreicht haben, denn gerade die Jahre seit 1995 haben sich als die fruchtbarsten für das Museumsland Schweiz erwiesen. Dabei sind die privaten Künstlermuseen wie der Skulpturenpark Luginbühl in Mötschwil, das Museum Josephson in Giornico oder das geplante Franz Gertsch-Museum in Burgdorf noch nicht einmal erwähnt, und wie man munkelt, sollen neue Sammlermuseen schon in Planung sein. Neben diesen musealen Unternehmungen sind die zahlreichen Kunsthallen und Ausstellungsräume für hauptsächlich zeitgenössische Kunst nicht zu vergessen, die selbst in kleineren Ortschaften aus dem Boden sprossen: nicht nur das Löwenbräuareal in Zürich, wo sich 1996 die Kunsthalle einrichtete, sondern auch grössere und kleinere Hallen in St. Gallen, Wil, Liestal ebenso wie in Bellinzona, Fribourg und Neuchâtel. Selbst auf den Höhen des Furka-Passes wurde jeden Sommer neue Kunst gezeigt. Wendet man den Blick nach Deutschland, so zeigt sich ein ähnliches Bild, wenn auch nicht in derselben Dichte, und die regelmässigen Meldungen von grossangelegten Museumsneubauten und -erweiterungen in den USA weisen in eine ähnliche Richtung.

Noch nie standen also derart viele Ausstellungmöglichkeiten zur Verfügung, noch nie wurden Kunstsammlungen in solcher Dichte permanent gezeigt. Und noch nie hat sich ein derartiger Strom von bedeutenden Kunstwerken in temporären Ausstellungen beinahe flächendeckend über die Schweizer Landschaft ergossen: was transportierbar und importierbar ist, wird wo auch immer gezeigt, und selbst die zeitgenössische Kunst, die früher um Ausstellungsmöglichkeiten zu kämpfen hatte, ist umschwärmt. Erleben wir also eine eigentliche kulturelle Blütezeit, oder wird es uns ein wenig schwindlig, wenn wir an die beschränkte Zeit denken, die uns für den Besuch all dieser attraktiven Sammlungen und Ausstellungen zur Verfügung steht? Mit anderen Worten: ist es ein Triumph der demokratischen Kultur, dass bald keine Ecke dieses Landes mehr ohne Kunstsammlung oder Ausstellungsbetrieb ist, oder werden wir Zeugen einer Betriebsamkeit, die die jüngere Kunstgeschichte gnadenlos verwertet? Haben wir eine kulturelle Vielfalt vor uns, die nur der politische Föderalismus ermöglicht, oder eine heillose Zersplitterung kultureller Ressourcen? Realisieren wir am Ende des 20. Jahrhunderts die optimistischen Hoffnungen der Moderne auf den Eintritt der Kunst in die Oeffentlichkeit, oder wird die Moderne nun einfach sauber abgepackt serviert, angereichert durch die Lifestyle-Aspekte, die man der zeitgenössischen Kunst abgewinnen kann?

Diese Gedanken drängen sich auf, wenn man die strukturellen Veränderungen der Schweizer Museumslandschaft betrachtet. Tatsächlich ist es aber so, dass wir vor eine widersprüchliche Situation gestellt sind, die nur negative oder nur positive Urteile verbietet. Dieses Symposium soll auch nicht mit Urteilen beginnen, und so will ich kurz einige der durchaus verschiedenartigen Gründe ansprechen, die für diese Entwicklung verantwortlich sind; diese Gründe sind ebenso kunstimmanenter wie soziologischer Art.

– In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Kunstproduktion in durchaus nachvollziehbarer Weise verändert. So wuchsen mit der Thematisierung des Verhältnisses von Malerei und Raum, von Skulptur im Raum die Ansprüche an die Formen der Präsentation. Waren Werke früher in ein Ensemble integrierbar, so sind sie nun oft für einen eigenen Ausstellungssaal konzipiert. An die Stelle isolierter Objekte, eines Bildes oder einer Skulptur, trat die Schaffung von Installationen und Räumen, und selbst ephemere Ausstellungssituationen verlangten, als Werke integral aufbewahrt und gezeigt zu werden. Ein erstes exemplarisches Werk dieses Typus ist der Darmstädter Block von Joseph Beuys, der seit 1970 im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt aufbewahrt wird und innerhalb der Sammlung sieben Räume beansprucht. Das traditionelle Kunstmuseum war aufgrund seiner räumlichen Gegebenheiten kaum in der Lage, diesen Anforderungen gerecht zu werden, und dies bedeutete, bestehende Museen massiv zu erweitern oder besondere Institutionen zu schaffen, die dafür geeignet waren – die Hallen in Schaffhausen sind ein Beispiel.

– Aehnliche Veränderungen beobachten wir in der Sammeltätigkeit. Die Konzeption einer Sammlung von ausgewählten Meisterwerken, wie sie beispielsweise noch in den sechziger Jahren der neugegründeten Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf zugrundegelegen hatte, wurde mehr und mehr durch die Auffassung ersetzt, dass es sinnvoller sei, von einzelnen Künstlern grössere Ensembles zu erwerben. An die Stelle des ausgewählten Einzelwerks trat der Aufbau einer Werkgruppe, gar eines eigenen Raums: vertieft statt breit sammeln, das schien begründet, hiess aber auch in Raumeinheiten zu denken, die den Rahmen einer traditionellen Sammlung sprengten und damit nach Erweiterungen oder Neubauten verlangten.

– Die Geschichte der Schweizer Museen ist eng mit derjenigen der privaten Sammlungen verknüpft. Die Ausstellungsreihe von zehn Schweizer Museen im vergangenen Jahr hat dies für die Vergangenheit an Beispielen erneut vor Augen geführt, und noch immer gehen bedeutende Werke aus privater Hand in die öffentlichen Sammlungen über. Doch das Bewusstsein der Sammler hat sich, wohl nicht ganz unabhängig von der Wertsteigerung der gesammelten Kunst, zu wandeln begonnen: der Wunsch, eine Sammlung als Ganzes zu erhalten und ihr einen entsprechenden Rahmen zu verleihen, steht manchmal vor der Wertschätzung der Werke, die das Zentrum einer Sammlung ausmachen. Die Museen müssen vor der Aufgabe, ganze Sammlungen zu übernehmen, meist versagen, denn sie sind darauf vorbereitet, einzelne hervorragende Stücke und Gruppen in ihre Sammlungen zu integrieren, wollen sie nicht ihre Identität preisgeben. Warum sollen aber Teile privater Sammlungen nicht wieder zurück in den Kreislauf des Handels gehen, um einen anderen privaten Platz zu finden, wo sie geschätzt werden? Aehnlich wie die zeitgenössische Kunst oft das einzelne Phänomen fixiert und verewigt, tendieren die Sammlungen zur Musealisierung. Das Ergebnis: Sammlermuseen, wie sie in Deutschland häufiger sind, – in den besten Fällen Beispiele unerhörter Kennerschaft, manchmal aber auch blosse Leistungsschauen, die einander zu sehr gleichen.

Diese Veränderungen sind nicht ohne Einfluss auf Tätigkeit und Selbstverständnis der Museen geblieben. Unverrückt steht jedoch der Name: Museum. Trotz der immensen Steigerung der Zahl der Museen hat sich die magische Kraft des Wortes "Museum” nicht vermindert. Die Vorstellung, dass eine Ansammlung von Objekten durch den Schriftzug "Museum” verklärt werde, hat sich erhalten, auch Jahre nachdem die Kunst einerseits, die Theorie andererseits zur Zerstörung der Grenzen zwischen Kunst und Leben und zur Aufhebung der Aura angetreten sind. Gegen diese Resistenz des Museums wäre von unserer Seite nichts einzuwenden, doch die Reduktion des Museumsgedankens auf die fetischhafte Propagierung dieses Wortes schafft Missverständnisse. So scheint es voluntaristisch oder auch bloss kühn, wenn man diesen Begriff nur in Anspruch nimmt, um ein Ensemble von Gegenständen zu adeln, ohne die Implikationen auf sich zu nehmen, die damit einhergehen. Ein Museum ist kein momentanes Ereignis, sondern Teil der Geschichte, und seine Aufgabe ist deshalb auch nicht nur Schaufenster zu sein, sondern sich mit dem Inhalt dieses Schaufensters zu befassen. Sammeln, Aufbewahren, Vermitteln – das bedeutet die kritische Vorbereitung von Ankäufen, die Lagerung und Pflege der Werke, ihre Restaurierung, das Ausstellen, Erforschen, Bearbeiten und damit die Erschliessung für das Publikum. Die Trias der Aufgaben macht aber auch deutlich, dass das Museum nicht dem Moment gehört, nicht Sache eines genialen oder originellen Einzelnen ist. Es ist eine kollektive Arbeit in der Zeit und darum notwendigerweise öffentlich. Kann also ein solches komplexes Gebilde wie das Museum nach Belieben vervielfältigt werden, ohne dass abhandenkommt, was seinen Kern ausmacht? Und wenn nun immer neue Museen gegründet werden, was heisst das? Werden die Infrastrukturen aufgebaut, die die beschriebenen Aufgaben erfordern, so muss man sich fragen, ob dieses Nebeneinander nicht einen Verschleiss von Mitteln bedeutet; verzichtet man auf die Infrastrukturen, dann stellt sich die Frage, ob wir es überhaupt noch mit Museen zu tun haben.

Doch einmal abgesehen von den existierenden oder nicht existierenden, funktionierenden oder nicht funktionierenden Eigenschaften eines Museums hat die wachsende Zahl der Museen neue Verhaltensmuster erzeugt. Es ist klar, dass es immer bessere und schlechtere, attraktivere und weniger einladende Museen gab, doch ist das Museum nicht primär dafür geschaffen, sich auf diese Konkurrenz auszurichten, denn nur ein Teil seiner Aufgaben wird darin sichtbar und lässt sich nach diesen Massstäben beurteilen. Wenn nun mehrere Kunstmuseen auf begrenztem geographischem Gebiet arbeiten, dann stellt sich bald einmal die Notwendigkeit her, die Aufmerksamkeit nur schon deshalb auf sich zu ziehen, um aufgrund messbarer Erfolge seine Existenz zu rechtfertigen. Dazu kann Museumsarchitektur ebenso dienen wie gewisse beliebte Namen aus der jüngeren Kunstgeschichte, aber auch aufsehenerregende, am besten etwas voyeuristisch angehauchte Themen, wie sie neue Medien ermöglichen. Inhaltlich ist das hier nicht zu diskutieren, aber es könnte sein, dass die unscheinbaren und langfristigen Aktivitäten, die das Museum hinter den Kulissen zu betreiben hat, etwa die Bearbeitung der Sammlungen, die Restaurierungen, geschmälert oder geopfert werden müssen, denn es erfordert nun deutlich mehr Kraft, als Institution sichtbar zu bleiben. Wie schwierig es ist, sich dieser Dynamik zu entziehen, wissen alle, die an einem Museum arbeiten. Und auch, dass dieser Druck, sich als Institution in Szene zu setzen, kein direkter ist, sondern ein atmosphärischer, dem man sich umso weniger entziehen kann.

Im Vorfeld dieses Symposiums wurde verschiedentlich gefragt, ob es denn nicht gefährlich sei, eine solche Diskussion vom Zaun zu brechen. Sie könnte beispielsweise den Ruf nach Museumsschliessungen, Subventionskürzungen und anderen Eingriffen provozieren und Beifall von der falschen Seite erbringen. Darauf gibt es wohl nur eine Antwort: Kultur ist eine öffentliche Angelegenheit, und wir dürfen, wenn wir Verantwortung für Museen tragen, nicht hinter vorgehaltener Hand über diese Probleme sprechen. Dies darf keine Diskussion unter Fachkollegen sein, wie wir sie über kunsthistorische, restauratorische und andere Fragen führen sollen. Nein, wir sollten uns jetzt mit unseren Partnern, die die Oeffentlichkeit repräsentieren und von denen einige heute versammelt sind, darüber auseinandersetzen, wie wir konstruktiv mit einer Situation umgehen, an der wir alle beteiligt sind, und wenn die Museen die Initiative ergreifen, bestimmen sie den Verlauf der Diskussion wesentlich mit.

Also weder ein Tuscheln im kleinen Kreis noch ein Lamento. Dass wir heute zusammengekommen sind, dass wir unsere gemeinsamen Interessen an einen Tisch bringen und sie zu formulieren versuchen, ist ein erster symbolischer Schritt, um den Kunstmuseen eine gemeinsame Stimme zu verleihen. Eine gemeinsame Stimme fehlt nämlich, wie in den letzten Jahren deutlich wurde: wann immer in der Oeffentlichkeit von Problemen die Rede war, die die Kunstmuseen vital betrafen – die Ratifizierung der Unidroit-Konvention, die Raubkunst-Debatte usf. –, war ihre Stimme nicht oder kaum zu hören. Es könnte ein schöner Effekt dieses Symposiums sein, wenn daraus eine Konferenz der Kunstmuseen hervorginge, ein Forum, um spezifische Fragen zu erörtern und von da aus, wenn es nottut, gemeinsam an die Oeffentlichkeit zu treten.
Artikulation der Interessen auf nationaler Ebene, spezifische Ueberlegungen und Massnahmen auf lokaler Ebene: wenn ich mit dem Beispiel Winterthur begonnen habe, so muss ich wohl auch damit aufhören. Wäre es nicht möglich, die Kräfte der grossartigen Museen in dieser Stadt zu bündeln, um so mit den vorhandenen Mitteln mehr zu erreichen? Wäre es jetzt nicht vonnöten, statt einer immer weitergehenden Differenzierung in kleinere Einheiten wieder das Ganze zu sehen, um das es in unserer Arbeit schliesslich geht: den Umgang mit Kunstwerken, und dafür die Basis zu verbessern? Das könnte heissen, administrative und technische Aufgaben, die gegenwärtig an verschiedenen Stellen parallel angegangen werden, zentral zu organisieren, also etwa die Verwaltung des Leihverkehrs oder die telephonischen Auskünfte, die Insertion, Oeffentlichkeitsarbeit usf. Man soll mir nun keine Fusionsphantasien unterstellen, es wäre aber eine Aufgabe für die Museumsstadt Winterthur hier neue Wege zu gehen, damit ihre Institute in einer Landschaft weiterleben können, die weniger und weniger Grenzen kennt. In Projekten sollte dieses Symposium hoffentlich enden, und wir werden in den kommenden Stunden erfahren, welche Anregungen wir dafür von unseren Gästen entgegennehmen können.