Editorial

Museumsland Schweiz:
Wachstum ohne Grenzen?
Tagung Winterthur - 25. September 1999

Neue Museen in der Provinz: Eine neue Museumsregion in der Ostschweiz
Dr. Friedemann Malsch, Direktor, Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung, Vaduz




Meine Damen und Herren

als Konservator der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung leite ich ein Kunstmuseum in dem kleinen aber unabhängigen Fürstentum Liechtenstein. Das Land hat 32.000 Einwohner, wovon gut 30% Ausländer, und ich bin einer davon. Dieser hohe Ausländeranteil ist typisch für Kleinstaaten, die zur Aufrechterhaltung des Funktionierens ihrer Infrastruktur auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen sind. Schon aus diesem Grund sind Kleinstaaten in hohem Masse zur Auseinandersetzung mit dem Ausland gezwungen, was aus geografischer Sicht unmittelbar einleuchten wird, was aber in gleichem Masse für die kulturelle Identitätsfindung gilt. Kleinstaaten stehen somit in demselben Spannungsverhältnis, in dem auch Grenzregionen grösserer Staaten stehen, ja sie verkörpern diese Spannungen in ihrem Funktionsmodus. Dieses Spannungsverhältnis wird oft in die Dichotomie von Zentrum und Peripherie gefasst, wobei die Peripherie in Einheit mit dem etwas despektierlich gefärbten Begriff der Provinz gedacht wird. Nun haben die politischen Entwicklungen nach 1945 in Europa zu einer Erosion der Orientierung von Peripherien an ihre Zentren geführt. Grenzregionen haben sich innerhalb der Europäischen Union in zunehmenden Masse über die Nationalstaatsgrenzen hinweg aufeinander bezogen und teilweise sogar gemeinsame Perspektiven entwickelt, was zur Herausbildung eines gestärkten Selbstbewusstseins in diesen Regionen geführt hat. Als Beispiele mögen die Region Oberrhein mit Elsass, Baden und Basel sowie das Grenzgebiet zwischen Belgien, den Niederlanden und Deutschland gelten. M.E. ist die Rheintal-Region ihrerseits dabei, wenigstens im Bereich der Kultur sich in ähnlicher Weise zu entwickeln.


1. "Provinz" und Kunstmuseum

Meine Überlegungen werden im Folgenden deshalb um zwei Themen kreisen: In einem ersten Teil möchte ich einige grundsätzliche Bemerkungen machen zur Definition von "Provinz" und zur Rolle, die Kunstmuseen in ihr einnehmen, um dann am konkreten Beispiel der Rheintal-Region die Skizze einer Museumslandschaft als "Wachstum über Grenzen" zu erstellen.

Mit der negativen Bedeutung der "Provinz" verbindet man stets eine gewisse Abkoppelung vom Geschehen in der "Zentrale" bzw. eine zeitversetzte Mimesis dessen, was sich in der "Zentrale" ereignet.

Wie aber vereinbart sich die Vorstellung von der Provinz mit dem Föderalismus? Doch lediglich nach der Zentralität von Macht, die in den Zeiten der Demokratie wesentlich von der Akkumulation des Geldes bestimmt wird. Und die Kultur lebt weniger von der institutionellen als von der wirtschaftlichen Macht. Während Rom nach wie vor die Hauptstadt Italiens ist, liegt das wirtschaftliche und das kulturelle Zentrum Italiens seit dem späten 19. Jahrhundert eindeutig in der Region zwischen Mailand und Turin. Die Provinz also ist immer da, wo es keine wirtschaftliche Macht gibt. Aber auch das ist relativ. Castelnuovo und Ginzburg haben in den 70er Jahren in einem epochemachenden Aufsatz auf die geistige Unabhängigkeit der "Provinz" aufmerksam gemacht. Ihre grundlegende Beobachtung galt der Tatsache, dass gerade dort, wo das machtpolitische Zentrum weit entfernt ist, sich auch im kulturellen Sektor sehr eigenständige Entwicklungen vollziehen können, die damit die Vereinheitlichung von Kultur durch Macht unterlaufen und der Kultur damit die Möglichkeit der Weiterentwicklung erhalten. Nun sind Museen natürlich weniger dazu geeignet, die Entwicklung kultureller Ausdrucksformen zu fördern. Vielmehr stellen sie ein Instrument zur Darstellung des kulturellen Selbstverständnisses einer Gemeinschaft dar. Die Geschichte des Louvre während der Französischen Revolution ist hierfür ein schönes Beispiel. Museen sind also ein klassisches Instrument der Repräsentation. Dennoch haben sie in den Zeiten der Demokratie auch die Möglichkeit der direkten, wenngleich eher langfristig wirkenden, Einflussnahme auf die kulturelle Prägung der Bevölkerung. Deshalb kann man meines Erachtens heute nicht mehr von "Provinz" sprechen sondern lediglich von "unterversorgten Regionen". Diese unterversorgten Regionen tragen noch ein weiteres Merkmal. Sie sind nicht selten markiert von Eigenschaften, die den "Zentralen" im Laufe der Zeit abhanden gekommen sind: Natur und die Verbundenheit mit ihr sowie die Pflege volkstümlicher Traditionen. Diese Merkmale machen sie wiederum attraktiv für die Bevölkerung der "Zentralen". Die kulturell "unterversorgten Regionen" sind in der Regel "Zentralen" des Tourismus. Der Tourismus aber verlangt immer nach beidem: den Merkmalen der Unterversorgung und zugleich wenigstens einigen Eigenschaften der "Zentralen". In diesem Sinne sind die "unterversorgten Regionen" von besonderem Interesse, da sich in ihnen die kulturellen Sollbruchstellen der Gesellschaft schärfer abbilden als in den Zentralen. Hier öffnet sich ein thematisches Feld, das den Museen, und insbesondere den Kunstmuseen, enorme inhaltliche und kulturpolitische Verantwortung überträgt, die die Gestaltungsmöglichkeiten von Kunstmuseen in "Zentralen" um einiges übersteigt. Da sie nicht dazu gezwungen sind, den Stand der künstlerischen Kultur einer Zentrale abzubilden, können sie andere Wege beschreiten. Darüber hinaus sind die Museen in den Zentren oft durch ihre schiere Grösse zu einer Sammlungstätigkeit verdammt, die die Herausbildung eines eigenen Profils eher behindert. Die meist kleineren bzw. mittelgrossen Museen in den "unterversorgten Regionen" haben in dieser Hinsicht mehr Möglichkeiten, ihr Profil durch besondere Akzente in der Sammlung wie in der Ausstellungs-Tätigkeit zu schärfen. Damit haben sie zugleich mit Blick auf die lokale und regionale Bevölkerung grössere Wirkung im Bereich der kulturellen Prägung als die Museen der Zentren, in denen überwiegend die bereits vorhandene Prägung gespiegelt wird.

Wenn also in bislang unterversorgten Regionen eine Aufwertung der Kunstmuseen stattfindet, so ist dies ein deutliches Indiz für eine starke Wirtschaft und für ein gewachsenes Selbstbewusstsein, das durch und mittels der Kunstmuseen nach neuen Herausforderungen verlangt. Dies gilt in besonderem Masse für Regionen im Grenzgebiet mehrerer Staaten.


2. Die Museumslandschaft Rheintal-Region

Die Rheintal-Region umfasst das Gebiet zwischen Liechtenstein, St. Gallen, dem Arlberg und dem östlichen Nordufer des Bodensees. Dieses Gebiet ist, sofern man sich nur in den Tälern bewegt, in jeder Richtung leicht innerhalb einer Autostunde durchquerbar. In ihr leben nicht einmal eine Million Menschen, aufgeteilt in vier Staaten: Schweiz, Deutschland, Österreich und Liechtenstein. Auf dem Gebiet der Schweiz ist der Kanton St. Gallen davon betroffen, weniger bereits Appenzell, da dies nur umständlich zu erreichen ist und deutlich längere Anreisezeiten erfordert. Das Hinterland des Städtedreiecks St. Gallen - Bregenz - Vaduz ist darüber hinaus deutlichen abgegrenzt: westlich St. Gallen beginnt sehr schnell die Orientierung auf die Zentrale Zürich, nördlich des Bodensees liegt ein tiefes Hinterland ohne eigene Charakterzüge. Der Arlberg trennt Bregenz vom Rest Österreichs, und südlich von Bad Ragaz beginnt das Bündner Land, das sich stark auf sich selbst konzentriert bzw. schon gegen Süden orientiert ist.

In dieser Region gibt es heute 5 öffentliche Kunstmuseen. Das Zeppelin-Museum in Friedrichshafen, das Vorarlberger Landesmuseum und das Kunsthaus in Bregenz, das Kunstmuseum St. Gallen und die Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung in Vaduz. Letztere wird im Herbst 2000 den von privaten Geldgebern errichteten Neubau für ein Kunstmuseum beziehen und damit über dieselbe Infrastruktur verfügen wie die Museen in St. Gallen und Bregenz. Von diesen Museen hat lediglich St. Gallen eine partiell private Trägerstruktur, alle anderen Museen sind in öffentlicher Hand, in kommunaler (Friedrichshafen), in regionaler (Bregenz) oder in staatlicher (Vaduz). Erstaunlich ist die Verschiedenartigkeit der Trägerschaften, die aber wiederum typisch ist für die in jedem Land eigenen Traditionen. Während in der Schweiz die starke Beteiligung einzelner Bürger an den Kunstmuseen zum Ausdruck kommt, ist in Deutschland mehrheitlich die örtliche Gemeinde der Träger. In Österreich tritt der starke Einfluss des Staates in der Trägerschaft in Erscheinung, was auch in Liechtenstein, das über viele Jahrhunderte zum Wiener Imperium gehörte, einen Widerhall findet, der neuerdings jedoch gebrochen wird durch das starke Engagement privater Geldgeber zur Errichtung des neuen Kunstmuseums. Entsprechend sind die Sammlungen gewachsen: In St. Gallen ist sie wesentlich aus den Beiträgen der privaten Sammlerschaft entstanden, in Friedrichshafen und in Bregenz wurden und werden sie ganz von der öffentlichen Hand finanziert, und in Liechtenstein halten sich öffentliche und private Beiträge die Waage. Das Kunstmuseum im Fürstentum Liechtenstein ist dabei das einzige Museum in der Region, das als Musee des Beaux-Arts funktioniert, denn es beherbergt neben den eigenen Sammlungsbeständen der Kunst des 19. und 20.Jahrhunderts auch Ausschnitte aus den hervorragenden klassischen Sammlungen der Fürsten von Liechtenstein. In Bregenz ist die klassische Kunst die Domäne des Landesmuseums, während sich das Kunsthaus auf die Kunst des 20.Jahrhunderts und hier besonders auf die zeitgenössische Kunst konzentriert. In St. Gallen schliesslich zeigen sich neuerdings auch Anzeichen für ein Musee des Beaux-Arts durch Zuwächse im Bereich der klassischen Kunst. Darüber hinaus wird das Kunstmuseum durch eine naturkundliche Abteilung ergänzt. Die typologische Vielfalt dieser Sammlungsstrukturen spiegelt auch die Geschichte ihrer Entstehung. Sie ist aber zugleich Grundlage für eine reichhaltige Ausstellungstätigkeit, die weniger in Konkurrenz zueinander steht als dass sie sich gegenseitig ergänzt. Gemeinsam ist allen diesen Museen die Erfahrung der Grenzregion, die eher die Orientierung auf das Fremde jenseits der Grenze fördert als sich auf die weit entfernten Zentren zu beziehen. Mit Ausnahme von St. Gallen, das bereits im vergangenen Jahrzehnt eine neue Dynamik entwickelt hat, ist diesen Museen auch die Tatsache gemeinsam, dass die regionale Bevölkerung bislang mit bildender Kunst deutlich unterversorgt war. Zwar hat die wirtschaftliche Prosperität rund um den Bodensee und in Liechtenstein in den letzten Jahrzehnten zu einer ansehnlichen Zahl privater Kunstsammler geführt, doch sind breite Bevölkerungsschichten bislang kaum mit bildender Kunst in Berührung gekommen. In Liechtenstein galt darüber hinaus seit 1945, als die Sammlungen des Fürsten während der letzten Kriegswochen ins Land kamen, dass bildende Kunst ein Synonym für das Fürstenhaus war. Gerade an diesem Land kann man daher den grundlegenden Bewusstseinswandel in Teilen der Bevölkerung beobachten, der in etwas abgeschwächtem Masse auch für die anderen Teile der Region gilt. Hier hat eine mentale Emanzipation auf der Basis wirtschaftlichen Erfolgs stattgefunden, die das Bedürfnis nach Kulturisation nach sich zieht. Die einzelnen Museen können deshalb, entsprechend ihrer eigenen Entstehungsgeschichte, ihre individuelle Ausstellungs- und Sammlungstätigkeit praktizieren ohne miteinander in direkte Konkurrenz zu treten, da das kulturelle Erbe jedes Teils dieser Region unterschiedlich angelegt ist und sich in den Strukturen der Museen abbildet. Ich freue mich, dass ich dies auch im Sinne der Kollegen aus Bregenz und St. Gallen an dieser Stelle zum Ausdruck bringen kann. So kann in St. Gallen eine Ausstellungstätigkeit erfolgen, die wesentlich von den Interessen der ansässigen engagierten Bürgerschaft getragen wird. In Bregenz wird das Kunsthaus fast ausschliesslich als Ausstellungsinstitut für zeitgenössische Kunst betrieben werden, und Vaduz wird von der Präsenz der Fürstlichen Sammlungen profitieren, um mit einem inhaltich engagierten Ausstellungsprogramm ein Angebot zu geben für die Querverbindungen zwischen den vergangenen Kunstepochen und ihrer lebendigen Gegenwart. Diese Profile ergänzen sich zu einem vielseitigen Bild, das auch von den unterschiedlichen Traditionen diesseits und jenseits der Grenzen gespeist wird. Die Vielzahl dieser Gemeinsamkeiten drückt sich auch in dem kollegialen Verhältnis zwischen den drei Häusern aus und wird voraussichtlich in Zukunft Anlass zu konzertierten Aktivitäten im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit geben. Im Bereich der Ausstellungspolitik geht zwar jedes Haus eigene Wege, es ist aber bereits jetzt deutlich zu erkennen, dass sie durch das Bemühen gekennzeichnet sind, ein von den Zentren gesondertes Profil zu entwickeln, ohne dabei die Ziele der Internationalität und der fachlichen Seriosität aus dem Blick zu verlieren. Dies alles wird dazu beitragen, dass die Rheintal-Region in den kommenden Jahren an Attraktivität, aber auch an Bedeutung für die internationale Museumslandschaft und für das Ausstellungswesen gewinnt. Ihre Bedeutung wird wachsen, nicht ohne Grenzen sondern über Grenzen.